Ursprünglich erschienen am 26.12.2015 auf Powderguide.com
Lea Hartl, Chefredakteurin Powderguide: „Lukas Ruetz, Jahrgang 1993, aus St. Sigmund im Tiroler Sellraintal, sammelt pro Saison gut 200.000 Aufstiegshöhenmeter, und das fast ausschließlich in seinen unmittelbaren Heimatbergen. Auf seinem Blog berichtet Lukas zur Freude seiner beachtlichen Leserschaft eloquent und informativ von seinen Touren, seien es typische Sellrainer Standardrouten, oder steile Erstbefahrungen. Der so junge wie traditionsbewusste Skitourengeher ist aktives Mitglied der Bergrettung und Beobachter des Tiroler Lawinenwarndienstes. Auf Tour begleitet ihn meist nur sein Hund.“
Der Alleingänger. Den meisten läuft es jetzt schon kalt über den Buckel. Die negativen Assoziationen zu diesem Schlagwort haben ganz klar die Überhand wenn man es mit Alpinismus – oder allgemein mit „Bergen“ – verbindet. Warum? Und warum sollte man sich Gedanken darüber machen? Eines sollte doch klar sein: Am Berg hat man einfach nicht alleine unterwegs zu sein, oder? Eine Bestandsaufnahme.
Ich gehe jeden Winter +/- 140 Skitouren, davon etwa 120 abseits von Pisten und von diesen etwa drei Viertel alleine – der Hund als Begleiter zählt in diesem Fall nicht. Das klingt nach viel Einsamkeit und Verlassenheit, für andere eventuell nach Egoismus oder Individualismus. Wiederum andere sagen einem „Außenseitertum“ nach. Vorweg: Jeder Aspekt trägt seinen Teil zu meinen Alleingängen bei – aber es hängt noch sehr viel mehr daran!
Es beginnt mit der Zeitplanung: Als Student kann ich es mir so einteilen, dass ich unter der Woche vormittags oft in die Berge komme. In meinem Freundeskreis befinden sich die meisten aber im Arbeitsleben und können mir so keine Gesellschaft leisten. Das Wochenende ist bekanntlich immer kurz, oft genug mit Skitouren-unfreundlichen Wetterverhältnissen gesegnet und außerdem muss der fleißige Steuerzahler dann oft Erledigungen einplanen, die werktags liegen bleiben.
Weiter geht es mit dem technischen und konditionellen Niveau. Wenn man derart viel unterwegs ist, können nicht mehr viele mithalten – leider. Eine Tour im – subjektiv gesehen – ganz gemütlichen Tempo mit Freunden bringt Abwechslung, aber jede Tour mit Nasenatmung zu beschreiten, ist für jemanden mit sportlichen Ambitionen ebenfalls uninteressant. Hier kommt der Egoismus ins Spiel. Ich gehe nicht mehr so gerne mit schwächeren Kollegen – auch, wenn wir gut auskommen. Das „Rücksicht nehmen“ fällt nicht immer leicht, wenn man ein gewisses Niveau erreicht hat. Mit diesen zwei Punkten sind bereits 99% der Tourengeher als potentielle Partner ausgeschlossen.
Ich habe mit dem Bergsport mit 16 begonnen. Damals gab es kaum jemanden, der mitziehen wollte. Wohl altersbedingt. So war ich von Anfang an viel alleine unterwegs. Meine Eltern sind (waren) ebenfalls begeisterte Bergler. Bei ihnen fehlt inzwischen berufsbedingt die Zeit dazu. Darum bin ich alleine losgezogen, immer begleitet von den Ratschlägen meines Vaters. So hat sich wahrscheinlich auch ein gewisser Gewöhnungseffekt gegenüber dem Allein-sein eingestellt.
„Ein Hauptstudium der Jugend sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen, weil sie eine Quelle des Glücks und der Gemütsruhe ist.“
Dieses Zitat von Arthur Schopenhauer beschreibt treffend das wohl stärkste Argument, warum ich gerne alleine unterwegs bin. Die innere Ruhe, die man in den teils Trance-artigen Zuständen im Aufstieg erfährt, kenne ich sonst von keiner Tätigkeit. Man hat Zeit zum Nachdenken, die man sich im Alltag selten nimmt. Es tauchen immer wieder Gedankenfetzen der vorigen Tage oder Wochen auf, die – meistens aus zeitlichen Gründen – beiseite geschoben wurden und nicht zu Ende gedacht werden konnten. Man kann sich gedanklich ordnen, kommt auf neue Ideen, schließt mit anderen ab.
Ich finde es immer wieder erstaunlich, was einem so alles in dieser Zeit in den Sinn kommt. Vom völligen Irrsinn bis zu höchst interessanten Ansätzen – egal zu welcher Thematik.
Außerdem ist man nur einsam, wenn man sich einsam fühlt.
Ist man konditionell auf einem entsprechenden Niveau, gibt es auch das sogenannte „Runner’s-High“, das für mich nur auf Solo-Bergtouren erlebbar ist. Man kann meiner Meinung nach zu zweit oder in einer Gruppe gedanklich nicht soweit abschalten und genau sein Tempo gehen, um diesen euphorischen Zustand zu erreichen.
Risikominimierung ist bei allen meinen Touren der wesentlichste Teil in der Planung. Ich spreche dabei lieber von „Risikooptimierung“ – weil es sich dabei nur teilweise um eine Reduktion handelt. Man geht nicht immer (oder nur ich?) das denkbar niedrigste Risiko ein, oft aufgrund der Tagesverfassung, die die Risikobereitschaft wesentlich beeinflusst. Wichtig ist, dass man sich des eingegangenen Risikos bewusst wird und für sich abwägt. Ist man sich eines hohen Risikos bewusst, ist es für mich weniger schlimm als sich des Risikos nicht bewusst zu sein und eigentlich nicht genau zu wissen, worauf man sich einlässt. Leider beobachte ich das falsche Einschätzen oder das „Gar-nicht-Einschätzen“ viel zu oft – und wenn diese Personen noch unbelehrbar sind, sind sie für mich als Tourenpartner gestorben.
Risiko ist bekanntlich das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensausmaß. Die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Lawine (wohl der Hauptdiskussionsgrund bezüglich dem „allein unterwegs sein“) ist, meiner Meinung nach, individuell verschieden. Das kommt auf die Risikobereitschaft der Person im Alleinzustand, die der Begleitperson, und die Risikobereitschaft der beiden im Verbund an. Aus meiner persönlichen Erfahrung ist sie in der Gruppe etwas höher, da immer ein gewisser Gruppenzwang herrscht, egal wie man es schönredet. Man möchte dem Begleiter nicht den schönen Hang bzw. den schönen Tag nehmen. Das heißt, die Eintrittswahrscheinlichkeit ist nicht verallgemeinerbar. Das Schadensausmaß hingegen fällt, der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach, in der Gruppe geringer aus: Die Tatsache, dass es unwahrscheinlich (beim einzelnen Befahren von steilen Hängen) ist, dass beide bzw. alle einer Gruppe verschüttet werden, stellt das Hauptargument gegen Single-Touren im Winter dar. Die Kameradenrettung ist nach wie vor praktisch der einzige Weg eine Totalverschüttung zu überleben und so das „Schadensausmaß zu verringern“. Alleine hat man die schlechtesten Karten in einer Lawine – Punkt.
Ich habe inzwischen eine Hand voll guter Freunde, mit denen ich meine Bergleidenschaft teile – wo es vom konditionellen und technischen Niveau passt, sowie vom menschlichen her (darunter fällt auch die Risikooptimierung). Mit „anderen“ bin ich zwischendurch unterwegs, aber selten. Ich bin sehr zufrieden mit dem Ist-Zustand und mache mir keinen Druck, noch zig Leute kennenlernen zu müssen oder mit weniger bekannten Bergkollegen, wo die Chemie nicht so gut stimmt, Touren ausmachen zu müssen. Ich bin nach wie vor auch sehr gern allein am Berg.
Ich glaube aber, nur alleine unterwegs zu sein, verändert jeden Menschen ins Negative. Man schafft sich eine eigene (falsche) „Realität“ – man wird realitätsfremd.
Deshalb ist die Einsamkeit ein guter Ort zum Besuchen – aber ein schlechter Ort, um zu bleiben.
Einer meiner engsten Tourenkollegen pflegt immer zu sagen: „Bergfreundschaften sind Freundschaften für’s Leben.“ Was einen bei einer Bergtour verbindet, kann man im „zivilen“ Leben kaum oder nur langsam erfahren. Das gegenseitige Rücksicht nehmen, die gemeinsame Freude an den landschaftlichen Schönheiten, das Bewusstsein, der andere ist für mich da, wenn etwas passieren sollte, das gegenseitige gut zureden bei (eigentlich ungeplanten) „haarigen“ Aktionen.
Der Berg ist einer unserer letzten Freiräume. Hier liegt es zum Glück (meistens) in unserer eigenen Verantwortung, die Konsequenzen unserer Entscheidungen zu tragen – im positiven wie negativen Sinn. Alleingänger sind selten „Wahnsinnige“ – wir wissen sehr genau, worauf wir uns einlassen und ich denke, die meisten hängen deswegen nicht weniger an ihrem Leben.
Am Ende liegt es in der Hand jedes einzelnen, ob man allein unterwegs sein möchte. Es gibt Argumente für die „einsame“ Bergsportlerei (zeitliche und technische Abstimmung, Ruhe finden, Runner’s High, Individualismus, Egoismus) und für die gemeinsame Ausübung (Kameradschaft, Freundschaft, Hilfestellung und -leistung) unser aller Leidenschaft.
Eines sollte man – egal ob allein unterwegs oder nicht – trotzdem NIE vergessen:
Unsere Entscheidungen betreffen nicht nur uns, sondern auch die Menschen, die auf uns warten, von denen wir geliebt werden. Man gehört nicht nur sich selbst.