Interview mit „Krustenjäger“ Patrick Nairz Lawinenprognostiker im LWD Tirol | SchneeGestöber #9 19/20

Interview mit „Krustenjäger“ Patrick Nairz Lawinenprognostiker im LWD Tirol | SchneeGestöber #9 19/20

Lesezeit: 12 min

Patrick Nairz ist seit über 20 Jahren Lawinenprognostiker für den Lawinenwarndienst in Tirol und in der Skitourenszene ein bekanntes Gesicht. Der Schneestöberer hat mit ihm über die fünf Lawinenprobleme, seinen Werdegang, die wichtigsten Beiträge zur Lawinenprävention und über die leidenschaftliche Jagd nach Krusten innerhalb der Schneedecke gesprochen.

Schneestöberer: Patrick, wir kennen uns schon seit einigen Jahren. Für mich und sicher auch für viele unserer Leser war/ist es eigenartig warum du im Bild der Verteilung der Schneedeckenstabilität immer von Krusten sprichst. Sind es doch die weichen Schwachschichten und nicht die harten Krusten die uns die Probleme machen. Woher kommt dein besonderes Faible für Schmelz- oder Windkrusten und was hat es mit dem Bild für die Schneedeckenstabilität zu tun?

Patrick Nairz: Ganz klar, ohne Schwachschichten gibt es kein Schneebrett. Ebenso ist klar, dass eine Schneebrettauslösung wenig mit Krusten zu tun hat. Aber häufig findet man unmittelbar angrenzend an Krusten persistente, also lang anhaltende, Schwachschichten. Häufig sind diese Schwachschichten dann auch über große Distanzen gleichmäßig beschaffen. Die Folge können wiederum sehr großflächige Lawinenabgänge sein.

Patrick Nairz

Wichtig ist also, dass Krusten einerseits die Bildung von Schwachschichten begünstigen, andererseits verzögern sie die Verbindung der benachbarten Schneeschichten und „schützen“ zudem Schwachschichten vor deren Zerstörung. Insbesondere dann, wenn diese unterhalb der Krusten liegen. Wir beobachten bei Unfallanalysen aber auch die verstärkende Wirkung eines über der Schwachschicht liegenden, weichen Schneebretts aufgrund der Einlagerung von Krusten innerhalb dieses Bretts.

Die Konsequenz daraus: Ein guter Lawinenprognostiker muss über die Existenz und Verteilung von Krusten möglichst gut Bescheid wissen.

Patrick Nairz bei der Analyse einer tödlichen Unfalllawine

 

LR: Sind diese Erkenntnisse also ein weiterer Schritt vom reinen „Triebschneewarner“ in den Anfängen der Lawinenwarnung zu einem richtigen Lawinenprognostiker der alle Probleme erfassen kann und auch kommuniziert?

PN: Nein, diese Erkenntnis hat nichts mit dem über die Jahre diffizileren Prozessdenken und einer leichter verständlichen Kommunikation zu tun. Beides ist die Folge intensiver Beschäftigung mit der Materie und langjähriger Erfahrung. Gleichzeitig gibt es auch sehr gute Entwicklungen innerhalb der europäischen Lawinenwarndienste, insbesondere auch in Hinblick einer besseren Kommunikation. Stichwort: 5 Lawinenprobleme, die europaweit vereinheitlicht wurden.

Analyse an einem Schneebrettanriss

LR: Ich kenne dich fachlich als Schneemaulwurf dessen neurologische Strukturen sich jede Saison neu vernetzen. Sie bilden exakt den Schneedeckenaufbau für jede Region in Tirol, jede Höhenlage und jede Exposition nach und liegen wie eine Karte mit der Verteilung der Stabilität und einer chronologischen Auflistung aller Schneefälle und Regenereignisse vor deinem geistigen Auge. Zumindest habe ich diesen Eindruck immer. Wie viele Schneeprofile gräbst du dann eigentlich durchschnittlich pro Saison und wie lange machst du dir aus diesem Mosaik aus hunderten Schneeprofilen pro Tag Gedanken?

PN: Ich zähle meine Schneeprofile genauso wenig wie meine Ski- bzw. Bergtouren. Ich mache das aus Freude am Beruf bzw. an der Bewegung. Für den Winter 2014-2015 kann ich es allerdings genau sagen: Unsere Praktikanten und Zivildiener haben sich damals zusammengetan und mir am Ende der Wintersaison einen Pokal aus Zirbenholz geschenkt, der aus übereinanderliegenden Ringen besteht. Die Ringe unterschiedlichen Durchmessers und Dicke repräsentieren ein Schneeprofil dieses Winters. Am Pokal steht: „Schneeprofilwödmasta 2015 – 145 Profile“.

Ein wesentlicher Teil meines Jobs besteht u.a. auch darin, sämtliche Schneeprofile, derer ich habhaft werde, genau anzuschauen und möglichst gut zu analysieren, also nicht nur die meinigen. So geschieht es tatsächlich, dass ich mir mehrmals pro Tag den ganzen Winter über so meine Gedanken über Prozesse innerhalb der Schneedecke bzw. der Auswirkungen des Wetters auf die Schneedecke mache.

LR: Du und Rudi Mair, ihr seid hauptsächlich durch eure 10 Gefahrenmuster über die Tiroler Grenzen hinaus bekannt geworden. Aber lassen wir die mal beiseite. Was würdest du als deinen größten Beitrag zur Lawinenprävention – abseits der reinen Warnarbeit – bisher beschreiben?

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PN: Ich möchte das Buch dennoch ansprechen, weil ich es persönlich als einen der größten Beiträge zur Lawinenprävention sehe. Damit ist es uns für einen interessierten Benutzerkreis gelungen, mittels musterartigen (Prozess-) Denkens offensichtliche Gefahrensituationen leichter wahrzunehmen, was folglich hoffentlich auch zu einer Anpassung des Verhaltens führt. Nehmen wir z.B. das Gefahrenmuster 5 (Schnee nach langer Kälteperiode), dann heißt das: Passt besonders gut auf. Mit Schneefall kann es sehr rasch sehr gefährlich werden.

Abgesehen davon ist für mich der Blog als Zusatzinformation zum Lawinenreport ein nächster, wesentlicher Beitrag zur Lawinenprävention. Der Blog hat uns neue Möglichkeiten der Kommunikation geschaffen. Bilder, Grafiken, Profile etc. tragen wesentlich dazu bei, z.T. komplexe Situationen, die im Lawinenreport so gar nicht abgebildet werden können, sehr anschaulich wiederzugeben. Sehr hohe Zugriffszahlen und positive Rückmeldungen bestätigen die hohe Akzeptanz des Blogs.

Der Blog des LWD Tirol zählt in den Wintermonaten täglich tausende von Besuchern.

LR: Die fünf Lawinenprobleme gibt es jetzt seit 2014 wenn ich mich richtig erinnere und sind aus den Überlegungen einiger Schweizer Forscher und auch ein bisschen aus euren Mustern entstanden. Mittlerweile stehen sie für fortgeschrittene Nutzer meist in ihrer Priorität in der Tourenplanung schon über der Gefahrenstufe. Warum hat das in Europa so lange gedauert bis die Lawinenprobleme erfunden wurden? In Amerika zum Beispiel gab es die Avalanche Characters beziehungsweise die Avalanche Problem Types schon um einiges länger?

PN: Gut Ding braucht Weile. So war es auch bei den Lawinenproblemen. Ein slowenischer Kommunikationswissenschafter hat die Misere mit den unterschiedlichen, teils sehr ähnlichen Ansätzen aufgezeigt und den Lawinenwarndiensten nahegelegt, sich auf ein einheitliches, leicht verständliches System zu einigen. Das Ergebnis waren dann die 5 Lawinenprobleme. Die Icons bekamen anschließend noch einen Feinschliff vom bekannten Alpin-Cartoonisten Georg Sojer. Inzwischen werden die 5 Lawinenprobleme nicht nur in ganz Europa, sondern auch in den USA von den Kollegen in Utah verwendet. Leicht zu merken: Es gibt 5 Gefahrenstufen, 5 Lawinenprobleme, 5 Lawinengrößen und 10 Gefahrenmuster.

Die 5 Lawinenprobleme werden in Europa seit 2014 einheitlich verwendet und kategorisieren typische Gefahrensituationen. Sie wurden maßgeblich vom SLF und vom LWD Tirol entwickelt.
Zum Lawinenprognostiker gehört es auch, ausbildend tätig zu sein

LR: Zu dir selbst: Wie war dein Weg zum Lawinenprognostiker? Was hast du aus deiner Ausbildung mitgenommen und was hast du dir an essentiellen Fähigkeiten selbst beigebracht?

PN: Für mich war spätestens mit 16 Jahren klar, dass ich Lawinenprognostiker werden möchte. Diesen Weg habe ich seither konsequent verfolgt. Über den „Umweg“ des Studiums der Wildbach- und Lawinenverbauung, während dessen ich u.a. auch gezielt Vorlesungen in Salzburg und Innsbruck sowie Kurse in Kanada belegt habe, bin ich schlussendlich im Oktober 1999 beim Tiroler Lawinenwarndienst gelandet. Anfangs war die Arbeit in der Lawinenprognose trotz bereits zahlloser Geländetage vor Antritt des Jobs und trotz meiner damaligen Ausbildung ein Sprung ins ziemlich kalte Wasser. Ein guter Prognostiker kann man eigentlich nur dann werden, wenn man viel warnt und seine Warnungen kritisch analysiert. Daraus wiederum wächst das Verständnis gewisser Prozesse. Inzwischen – nach 20 Jahren in der Lawinenwarnung – habe ich viel Routine, die gut tut. Dennoch, langweilig wird dieser Job nie!

LR: Zuguterletzt: Was denkst du, kann ein normaler Skitourengeher aus deinem Umgang mit Lawinen auf deinen eigenen Skitouren auch umsetzen? Ist es sinnvoll, dass ein Wintersportler Schneeprofile gräbt?

PN: Der „normale“ Skitourengeher ist gut beraten, seine Tour mithilfe der von uns zur Verfügung stehenden Schnee- und Lawineninformationen samt Wetterinfos gewissenhaft zu planen. Wir graben für ihn die Profile und versuchen daraus ein möglichst realitätsnahes Bild im Lawinenreport bzw. Blog abzubilden. Somit kann sich der Skitourengeher auf die dortigen Infos konzentrieren. Wir sind froh, wenn vorherrschende Lawinenprobleme bekannt sind, die gefährdeten Bereiche im Gelände erkannt werden und solchen Stellen dann konsequent ausgewichen wird.

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Galerie

Die Entwicklung des Tiroler Lawinenlageberichts von 1960 bis heute

und in der heutigen Form:

3 Gedanken zu “Interview mit „Krustenjäger“ Patrick Nairz Lawinenprognostiker im LWD Tirol | SchneeGestöber #9 19/20

  1. Man muss sich einmal 145 Schneeprofile vorstellen, das bedeutet 1 Profil jeden Tag von 01.12.2014 bis 25.04.2015 in etwa… Hut ab! :) Selbst wenn man nur jeden zweiten Tag geht, heißt das 72,5 Tage auf Ski… ein Traumjob…

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