Auf’s Sellrain spezifizierte Version (siehe unten) bezüglich des momentanen Altschneeproblems. Original erschienen am 20.1.2017 auf Powderguide.com
„Die Hauptgefahr geht von einem Altschneeproblem aus, das auch vom Experten schwierig einzuschätzen ist.“ (aktueller Lawinenlagebericht Tirol)
Wir schreiben den Frühwinter 2017. Im Ostalpenraum hat sich gebietsweise wieder ein ausgeprägtes Altschneeproblem eingestellt. In die Präventionsarbeit von Altschneeproblemen kann man nicht genug Energie stecken, das zeigen Lawinenunglücke. Also schreiten wir zur Prophylaxe.
Analogiebildung hilft immer bezüglich Verständnis
Bezüglich Lawinenrisikomanagement zimmert sich mittlerweile nach Einschätzung des Schneestöberers fast jeder sein eigenes Schusterwerk zusammen – aber kaum jemand davon ist ausgebildeter Schuster oder Zimmermann. Und die Bedienungsanleitung (entspricht Risikoreduktionsmethoden) für den Zusammenbau der Ikeamöbel verwendet in der Praxis eigentlich auch niemand. Das funktioniert bezüglich Triebschneeproblemen und Nassschneeproblemen (Nachtkästchen) relativ gut, mit Neuschneeproblemen (Kommode) schon schlechter und mit Altschneeproblemen (Kücheneinbaugeräte) fast gar nicht mehr.
Wie oben angesprochen leben wir im Jahr 2017 – wie schaut die gängige bzw. am weitesten verbreitete Methode also aus, Lawinenrisikomanagement zu betreiben? 3×3, Stop or Go, w3 – oder bleibt man einfach noch zu Hause bis Ende Feber und geht dann nur am Vormittag auf Tour? Bei Ausbildungstouren, Lawinenkursen oder Alpenvereinstouren vielleicht. Bei der Privatskitour ist und bleibt es aber die laienhafte Handwerksarbeit, also das chaotische Zusammenschrauben von mitgelieferten Teilen und welchen aus seinem eigenen Baukasten, aber ohne beiliegender und damit leicht verfügbarer Bauanleitung. Was anständig gelernt wurde oder man irgendwo einmal gesehen und auf Anhieb verstanden hat bzw. nachvollziehen und anwenden konnte (auch bekannt als „Ein eintägiger Kurs mit jeder Menge solide interpretierter Erfahrung“) oder vielleicht vom Freund seines Schwagers erklärt bekommen hat, fließt ins Lawinenmanagement im winterlichen Gebirge mit ein.
Auditiver Lerntyp oder Lernen durch Hören
Das Altschneeproblem versetzt sich in der Zwischenzeit in seine Opfer und hört dabei Bon Jovi:
… I’m wanted, dead or alive.
Wanted, dead or alive…
Warum es Musik hört? Ganz einfach: Dem Altschneeproblem ist es egal, was die Erfahrung sagt – schnurzpiepsch…-egal. Die mordende Hulk-Seite des Altschneeproblems fürchtet nur eines: Den Lawinenlagebericht und diejenigen die fähig sind, die Informationen davon im Gelände umzusetzen.
Und wer fürchtet das Altschneeproblem im nötigen Ausmaß im Umkehrschluss? Richtig! Diejenigen, die fähig sind, den Lagebericht sinnerfassend zu lesen und die dortigen Informationen zur Tourenplanung umzusetzen – also richtiges Werkzeug zu verwenden und das Möbelstück nach der Anleitung zusammenzusetzen.
Schwachschichten innerhalb der Schneedecke, die nicht von Neuschnee und/oder Windaktivität ausgehen, kann man praktisch nicht mit Erfahrung managen. Bei den anderen Lawinenproblemen funktioniert das in weiten Teilen recht gut. Beim Altschneeproblem funktioniert das nur mit dem Lagebericht und vor allem einer soliden Umsetzung der dortigen Information, verbunden mit defensivem Verhalten.
Die Gefahrenstufe spielt (wie so oft!) – wenn man keine der oben angesprochenen Risikoreduktionsmethoden verwendet – nur eine untergeordnete Rolle: Es geht um die Verbreitung (Gebiet, Höhenlage, Exposition) und Auslösebereitschaft. Ob die Gesamtsituation in Verbindung mit den anderen Lawinenproblemen mehr auf eine Gefahrenstufe Mäßig (2) oder eine Gefahrenstufe Erheblich (3) zutrifft, ist von niedriger Relevanz.
Visueller Lerntyp: Lernen durch Lesen
In den letzten Tagen konnte man im Tiroler Lagebericht folgendes lesen: „Zu großer Zurückhaltung raten wir in steilen Schattenhängen, wo das Problem besonders ausgeprägt ist.“ oder „Mitunter sind besonders im schattigen Gelände auch Fernauslösungen möglich. Für Skitouren und Variantenfahrten benötigt man oberhalb der Waldgrenze weiterhin gutes lawinenkundliches Wissen.“ und „Das Altschneeproblem rückt vergleichsweise in den Vordergrund und bleibt länger bestehen.“
Motorischer Lerntyp: Lernen durch Hand anlegen
Das geht im Bezug auf Schnee leider nur mit Schneeprofilen. Wer gräbt und den Unterschied zwischen einer mit Schwachschichten versehenen im Gegensatz zu einer gut gesetzten Altschneedecke mit seinen eigenen Händen fühlt, begreift ganz schnell, warum die Predigten zum defensiven Verhalten bei Altschneeproblemen nicht enden wollen.
Fazit
Wer ist schlussendlich immer besser dran? Das wissen wir im Alltagsleben doch alle: Der ausgebildete Handwerker und derjenige, der die Anleitung liest und sich dran hält. Warum wollen wir das in Sachen Lawinen noch nicht wahr haben!?
Merke: Altschneeprobleme erfordern defensives Verhalten. Wir meiden konsequent Steilhänge in den Expositionen und Höhenlagen die der Lawinenlagebericht mit dem Altschneeproblem verbindet.
Die Lageberichtsleser und –versteher hören übrigens Musik aus einem anderen Genre, von den Bee Gees:
And we’re stayin‘ alive, stayin‘ alive
Ah, ha, ha, ha, stayin‘ alive, stayin‘ alive
Ah, ha, ha, ha, stayin‘ alive
Die Praxis im Sellrain
Das Sellrain ist p.d. das Gebiet zwischen dem Wörgetal im Westen, dem Inntal im Norden, dem Senderstal im Osten und den Lüsener Bergen im Süden. Bei uns schaut es so aus wie im Lagebericht beschrieben: Steilhänge oberhalb von 1900m schattseitig sind brandheiß. Auf den Lagebericht ist Verlass, keine Sorge.
Lukas hält sich momentan strikt fern von – zum Beispiel (die Sammlung ist nicht komplett!):
Pirchkogel (v.a. wegen der schattigen Querung am Hinteren Grieskogel)
Schneetal
Hochalter über Nordseite
Zwieselbacher Rosskogel
Zischgeles
Sulzkogel
Schöllerkogel
Kraspesspitze
Finstertaler Schartenkopf
Wechnerscharte
Gaiskogel Nord
Hintere Karlesspitze
Vordere Karlesspitze
allen Touren im Kühtaier Längental
allen Touren im Gleirschtal
allen Touren von Lüsens aus
Welche Touren kann man dann noch gehen? Naja – nicht viele. Wer das nicht akzeptieren will, kann sie schon gehen – der lebt halt nicht nur gefährlich sondern ist in seinem Handeln vergleichbar als ob er mit 180 durchs Inzinger Ortsgebiet fährt: Ob man es schafft, sich durch die Engstelle in Dorfmitte durchzuschlängeln ist eine Frage von Glück und Schutzengeln. Ich bleibe bei einer Hand voll südseitigen Touren (davon gibt’s im Sellrain leider sehr wenige) und gehe daneben nur bestimmte, sehr flache Touren deren Gelände vornehmlich Ost- und Westexponiert ist – mit maximal defensiver Spuranlage, d.h. die flachen Stücke suchen und ausnützen. Wie lange das so bleibt? Schwer zu sagen, noch ist keine Besserung in Sicht. Zumindest wenige Wochen, je nach Wetterentwicklung – leider.
Wenn man weiß, wo es bis Neujahr aper war, kann man dem Altschneeproblem auch ausweichen:
Mehr Infos zur Radiation Recrystallization.
Oder man geht halt woanders hin: In tiefer gelegene Gebiete bestenfalls. Den Glungezer kann man derzeit vom Inntal aus besteigen (2100hm) – wer seine Kondition unter Beweis stellen will:
was tust denn du gegen blasen im schuh. ich könnt die 2100 hm schu gar nit gehen, weil i spät. bei der hälfte schu wieder 3 blasen je fuß an den fersen links, rechts und hinten hätt :-(((
ich bekomm Gott sei Dank keine Blasen. Früher hab ich auf die blasenbildenden Stelle vor der Tour ein Blasenpflaster geklebt. Das hat gut funktioniert.
Wiederum sehr interessanter Bericht Lukas! Is glaub ich der einzige Blog der mir was bringt :-D Vor Allem die Fotovergleiche sind jetzt natürlich Gold wert!
lg ausn Keller