In Lawinenwarnprodukten wird häufig nur von der „klassischen Frühjahrssituation“ gesprochen. Aber was sind dann die „nicht-klassischen Frühjahrssituationen?“ Es gibt nämlich noch drei andere Möglichkeiten der Lawinensituation im Frühjahr. Gesamt sind es also vier mögliche, verschiedene Szenarien die wir nachfolgend durchbesprechen.
Szenario 1: Klassische Frühjahrssituation: Daily Melt-Freeze Cycles
Davon liest man häufig, ist es auch die mit Abstand am meisten vorkommende Schneesituation im Frühjahr.
Das Frühjahr in Sachen Schneedecke beginnt in den Alpen übrigens in den niedrigen Regionen im randalpinen Bereich schon im Feber. Hochalpin kann bis in den Mai immer eine Hochwintersituation vorherrschen – sofern die Wetterlagen passen – und die erste Durchfeuchtung der Schneedecke erst dann erfolgen! Wir sprechen vom Frühjahr in Kombination mit der Schneedecke nämlich erst, wenn sie erstmals tiefergehend durchfeuchtet wird.
Bei der klassischen Frühjahrssituation weicht die Schneeoberfläche untertags auf („firnt auf“) und friert nachts wieder zu einem Harschdeckel. Dieser kann dick und tragfähig sein, aber auch nur dünn und Bruchharsch – je nach genauer Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Bewölkungsgrad. Die Dicke des Harschdeckels hängt aber auch von der Durchfeuchtungstiefe der Schneedecke ab. Ist die Schneedecke nur oberflächlich auf wenigen Zentimetern feucht und darunter noch trocken, dann können auch nur die obersten, feuchten Zentimeter zu einem Harschdeckel frieren. Dann bildet sich auch Bruchharsch obwohl der Kälteeintrag in die Schneedecke bei Nacht mehr als genug wäre um eine Schneedecke, weit genug nach unten frieren zu lassen.
Aber ob die Schneedecke schon vollständig durchfeuchtet/durchnässt ist oder erst die obersten Schichten feucht geworden sind, ist egal. Man bezeichnet beides als die „klassische Frühjahrsituation“ sofern ein täglicher Wechsel zwischen Harschdeckelbildung an der Oberfläche und Auftauen untertags gegeben ist. Denn um diesen Zyklus geht es bei dem ersten Szenario.
Mit der täglichen Durchfeuchtung nimmt die Lawinengefahr im Tagesverlauf zu. Der Harschdeckel an der Oberfläche stabilisiert die Schneedecke nämlich massiv. Meist gibt es am Morgen sogar eine niedrige Gefahrenstufe 1 und im Laufe des Vormittags ändert sich das auf Gefahrenstufe 2 oder 3 oder sogar 4. Innerhalb von 24 Stunden gibt es also Tag für Tag einen Zeitbereich in dem es „supergefährlich“ und auf der anderen Seite im Grunde fast narrensicher ist.
Ein eklatanter Gefahrenanstieg im Tagesverlauf stellt sich meist bei der ersten, tiefergehenden Durchfeuchtung einer trockenen Schneedecke ein. Das Ausmaß des Gefahrenanstiegs hängt aber noch von mehreren Faktoren ab. Grundsätzlich gilt: Bei tiefergehender Durchfeuchtung nimmt die Lawinengefahr im Tagesverlauf in der Regel stärker zu als bei wenig tiefer Durchfeuchtung der Schneedecke.
- Wie schaut der Aufbau der Altschneedecke aus? Alte Schwachschichten, also ehemalige Altschneeprobleme die sich meist schon wieder erledigt haben, werden bei der ersten Durchfeuchtung meist nochmals extrem aktiv und führen zu starker, spontaner Lawinenaktivität. Das Schmelzwasser schwächt die Verbindungen zwischen den, im trockenen Zustand eigentlich schon wieder recht gut versinterten, großen Kristallen.
- Hat die Schneedecke noch eine Temperaturreserve? Bevor Schnee nämlich schmilzt, muss die eingehende Energie verwendet werden, um ihn von bspw. -7°C auf 0°C zu erwärmen.
- Wie tief wurde die Schneedecke bereits durchfeuchtet? Die erste Durchfeuchtung ist meist am kritischsten. Eben weil alte Schwachschichten noch vorhanden sind und geschwächt werden.
- Wie stark ist die Durchfeuchtung? Je nasser Schnee wird, desto instabiler wird er. Schnee kann maximal 15 Volumensprozent Wasser aufnehmen bevor das Wasser abfließt.
- Wie lange ist es her, dass die Schneedecke erstmals durchfeuchtet wurde und wie viel Schnee ist seitdem geschmolzen? Ab einem gewissen Punkt wird Schnee nämlich nicht mehr „nässer“ und instabiler, sondern beginnt sich wieder zu verfestigen. Im Schnee hat sich ein sehr gutes Wasserabflusssystem wie ein Straßennetz ausgebildet wo das ganze Wasser das durch die Schmelze entsteht, sofort abrinnen kann. Die Dichte nimmt dann markant zu. Kompakter Sommerschnee bildet sich aus. Das ist die erste Stufe von der winterlichen Schneedecke zum mehrjährigen Firn und evtl. später zu Gletschereis. Dadurch nimmt die Lawinengefahr wieder markant ab bis sie sich – trotz immer noch feuchter Schneedecke – wieder gegen Null nähert. Das geschieht aber ein Zeitraum von mehreren Wochen, meist erst im Mai oder Juni ein Thema.
- Wie stark ist der Wassereintrag an einem gewissen Tag? Wie stark ist die tageszeitliche Erwärmung – leicht oder ganz massiv? Wie stark ist die Sonne (große Unterschiede zwischen Feber und Mai bspw.)? Wie mächtig ist der Harschdeckel aus der Nacht und wie lange braucht er, bis er wieder komplett durchgeweicht wurde? Ist er nur sehr dünn, kaum tragfähig und weicht schon mit den ersten Sonnenstrahlen wieder komplett auf? Oder ist er 10 oder mehr Zentimeter dick, sehr kalt an der Oberfläche und braucht bis zum späten Nachmittag bis er wieder durchnässt wird?
Anhand dieser Überlegungen wird dann das Ausmaß des täglichen Gefahrenanstiegs von den Lawinenwarnern eruiert. Steigt die Lawinengefahr nur ganz leicht und erst später am Tag an oder ganz leicht und dafür schon recht früh nach Sonnenaufgang? Oder steigt sie markant im Tagesverlauf an? Oder kontinuierlich bis zu Sonnenuntergang? Oder gar schon ganz markant kurz nachdem die ersten Sonnenstrahlen die Schneedecke berühren?
Das Management der Lawinengefahr für Wintersportler geht dann (wie fast immer) nach Höhenlage und Exposition. Aber nicht nur auf örtlicher Basis, sondern auf zeitlicher Basis. Früh starten, früh wieder daheim sein. Dann genießt man meist den besten Butterzischfirn, isst daheim ein zweites Frühstück und legt sich am Nachmittag ins Freibad.
Bei der klassischen Frühjahrssituation gibt es einen mehr oder weniger stark ausgeprägten, tageszeitlichen Anstieg der Lawinengefahr. Gutes Zeitmanagement ist alles!
Szenario 2: All Melt, No Freeze
Diese Situation ist das Schreckensgespenst aller Wintersportler im Frühling. Entweder ist die Luft so warm oder so feucht oder der Himmel so bedeckt – meist aber alles in Kombination – dass die Schneeoberfläche auch in der Nacht nicht oberflächlich frieren kann. Dann schmilzt die Schneedecke nicht nur untertags, sondern auch in der Nacht weiter. Kein Harschdeckel bildet sich. Der Schnee bleibt feucht/nass, meist bremsend-saugend am Skibelag und die Lawinengefahr bleibt auf einem konstant eher hohen Niveau. In der Regel ist der Schnee auch so schlecht zum Skifahren, dass man gar nicht mehr ins Gelände will.
Die Extremform des All Melt, No Freeze Szenarios ist das Tauwetter. Beim Tauwetter steigt der Taupunkt – ein Maß für die absolute Luftfeuchtigkeit – auf über 0°C an. Dann hört der Schnee auf zu sublimieren und schmilzt nur mehr. Bei einem Taupunkt unter 0°C schmilzt und sublimiert Schnee. Bei einem noch viel tieferen Taupunkt sublimiert Schnee dann nur mehr. Dann bleibt der ganze Schnee der verschwindet, als Schmelzwasser auf der Schneedecke liegen, nichts wird mehr zu Wasserdampf und wird über die Luft abtransportiert. Das lässt die Schneedecke noch schneller durchnässen. Der Energieeintrag ist um ein Vielfaches höher. Und nicht nur das: Sie hat dann durch die positive Energiebilanz selbst in der Nacht Zeit zum Schmelzen, nicht nur untertags wie bei der klassischen Frühjahrssituation. Beim Tauwetter verschwindet die Schneedecke dadurch wie im Zeitraffer. Sie schmilzt 24 Stunden pro Tag dahin und hat keine Zeit mehr sich für ein paar Stunden zu verfestigen. Sie schmilzt also zeitlich gesehen durchgehend und auch die Stärke der Schmelze ist viel höher als bei einem Taupunkt unter 0°C.
Auch eine trockene Schneedecke aus dem Hochwinter durchnässt dabei derart schnell, dass man sich bald in einem Sumpf befindet. Wenn man bis zum Boden im nassen Schnee durchsackt, spricht man von Faulschnee. Nicht nur gefährlich in Sachen Lawinenauslösung, sondern auch vollständig spaßbefreit in Aufstieg wie in Abfahrt.
Bei der All Melt, No Freeze Situation gibt es keinen tageszeitlichen Anstieg der Lawinengefahr. Es ist einfach immer konstant prekär. Tage, um daheim aufzuräumen und Laufen zu gehen.
Szenario 3: All Freeze, No Melt
Kommt sehr kalte Luft daher und möglichst auch noch sehr trockene, dann kann die Energiebilanz trotz starker Frühjahrssonne – oft sogar in Sonnenhängen – ganztags negativ sein. Das heißt, die Schneeoberfläche kühlt stark aus und bleibt weit unter 0°C. Langwellige Ausstrahlung, Sublimationskälte (verursacht durch die trockene Luft verdampft viel Schnee und kühlt dadurch die Schneeoberfläche) und tiefe Lufttemperaturen von unter -10°C lassen den Schnee nicht mehr schmelzen. Der oberflächliche Harschdeckel bleibt den ganzen Tag gefroren, also hart.
Die Schneedecke kann sogar bei einem nachhaltigen Wintereinbruch mit sehr tiefen Temperaturen wieder komplett durchfrieren. Das heißt, es bildet sich nicht nur ein oberflächlicher Harschdeckel sondern die ganze, feucht-nasse Schneedecke friert zu einem harten, kompakten Stock – zu einer vollständigen Schmelzkruste. Dann finden wir wieder eine durchgehend trockene, gefrorene und wasserfreie (schließlich ist alles Wasser zu Eis geworden) Schneedecke vor. Sie kann theoretisch auch wieder Temperaturreserve aufbauen. Das heißt, dass die Kälte tief eindringt und die Schneedecke durch und durch nicht nur knapp frieren lässt, sondern weit unter 0°C abkühlen lässt. Dazu braucht es aber mehr als eine Woche mit klirrend kalten Bedingungen, möglichst ohne Neuschnee. Denn der Neuschnee würde die Altschneedecke viel zu gut von der kalten Luft isolieren, so dass die Kälte nicht tiefer eindringen kann. Aber auch ohne Neuschnee braucht es, je nach Mächtigkeit der Schneedecke, lange, bis die Schneedecke auch tiefer wieder durchfrieren kann. Mehr dazu in diesem SchneeGestöber unter Punkt „Harschdeckel-Akkumulation“.
Bei der All Freeze, No Melt Situation im Frühjahr gibt es keinen tageszeitlichen Anstieg der Lawinengefahr.
Meist herrscht ganztags Gefahrenstufe 1. Man rattert beim Skifahren über eine harte Kruste die nicht weich wird.
Im März 2020 gab es teilweise diese Situation: Die Schneedecke blieb sogar in höheren Sonnenhängen trotz intensiver Strahlung ganztags hart. Der Höhepunkt war am 24.03.2020 als die Schneeoberflächentemperatur morgens bei vielen Stationen auf unter -30°C gesunken ist. Am 27.03. ist schließlich wieder feuchtere und wärmere Luft hereingezogen und die Schneeoberfläche konnte sich durch die Kombi intensive Strahlung + feuchte Luft + relativ wärmere Luft wieder auf 0°C erwärmen und damit auffirnen.
Nebenbei: In den Alpen bildet sich bei der All Freeze, No Melt Situation am ehesten Büßerschnee aus. Eine Schneeform, auch Zackenfirn genannt, die durch die Sublimation der Schneedecke entsteht. Dessen Bildung konnte man auch in den letzten Tagen beobachten. Die Zacken wurden teilweise 15 cm tief. Zumindest bei wem noch Schnee im Quarantäne-Garten liegt, wie beim Schneestöberer daheim.
Exkurs: Büßerschnee von letzter Woche in den Dörfern im Sellrain
Innerhalb weniger Stunden wurde die Luft am 27.03. wieder relativ warm und feucht. Dann setzt die Schneeschmelze neben der Sublimation wieder ein. Der Schnee verdampft dann nur mehr zum Teil, der größere Teil schmilzt und bleibt als Schmelzwasser an der Schneeoberfläche liegen. Dann gehen in kürzester Zeit die Zacken und Grate auf der Schneeoberfläche wieder verloren und es bildet sich wieder eine relativ homogene und vor allem feuchte Schneeoberfläche aus.
Szenario 4: Hochwintersituation im Frühjahr
Dann gibt es noch die normale Hochwintersituation im Frühjahr…
Entweder war es bis weit in den März oder April hinein immer relativ kalt mit regelmäßigem Neuschnee. Dann wird die Schneedecke durch diffuse Strahlung durch die Wolken oder auch direkte Sonnenstrahlung während eines kurzen Zwischenhochs immer nur oberflächlich feucht. Eine tiefergehende Durchfeuchtung, die überhaupt erst zu einer der drei Frühjahrssituationen führen kann, hat dann schlicht und einfach noch nicht stattgefunden. Man muss unter Umständen noch auf alte, persistente Schwachschichten (= bodennahes Altschneeproblem) aufpassen. Meistens haben sich diese aber aufgrund der mächtigeren Schneedecke (geringerer Temperaturgradient) im Spätwinter und damit einhergehende abbauenden Umwandlung schon wieder gut verbunden und sind kein Thema mehr.
Es geht bei der Hochwintersituation im Frühjahr meist eher um das klassische Triebschneeproblem. Triebschnee ist störanfälliger, je frischer und kälter er ist. Ist es im Frühjahr immer noch eher kalt und gibt Neuschnee und Wind, dann findet man einfach eine Hochwintersituation mit ihren spezifischen Gefahren vor. Der Vorteil: Durch die intensive Strahlung wird der Triebschnee sehr schnell erwärmt und das Problem erledigt sich meist extrem schnell, das heißt oft in ein oder zwei Tagen. Unter Umständen sogar in wenigen Stunden.
Die Hochwintersituation kann sich aber auch nach einer bereits stattgefundenen Frühjahrssituation wieder ausprägen. Wird es mehrere Tage kalt und schneit (Unterschied zur All Freeze, No Melt Situation bei der es keinen oder nur minimal Neuschnee gibt), friert die durchfeuchtete Altschneedecke zumindest oberflächlich wieder. Das Nassschneeproblem hat sich dann wieder mehr oder weniger erledigt und es stellt sich wieder eine klassische Triebschneesituation ein. Eventuell in Kombination mit einem frischen Altschneeproblem weil sich eine markante, aufbauend umgewandelte Schwachschicht an der Grenzfläche zwischen warmer Altschneeoberfläche und kaltem Neuschnee bildet (großer Temperaturunterschied führt zu Bildung von Schwachschichten).
Bei der Hochwintersituation im Frühjahr gibt es keinen oder einen nur sehr leicht ausgeprägten tageszeitlichen Anstieg der Lawinengefahr.
Zusammenfassung
Es gibt vier verschiedene Schneedeckenszenarien im Frühjahr mit verschiedensten Auswirkungen auf Schneequalität und Lawinengefahr:
- Klassische Frühjahrssituation: Daily Melt-Freeze Cycles – mit tageszeitlichem Anstieg der Gefahr. Bei guter Zeiteinteilung toller Firn und geringe Gefahr. Ausprägung des tageszeitlichen Gefahrenanstiegs abhängig von vielen Faktoren.
- All Melt, No Freeze – Mit gleichbleibend relativ hoher Lawinengefahr und sehr schlechter Schneequalität. Sobald der Schnee sich zu Sommerschnee verwandelt hat, erledigt sich die hohe Lawinengefahr aber in dieser Situation wieder.
- All Freeze, No Melt – Mit meist niedriger Lawinengefahr ohne tageszeitlichem Anstieg. Schneeoberfläche hart. Kann homogen und griffig sein aber auch unregelmäßig und ruppig.
- Hochwintersituation im Frühjahr – Situation wie im Hochwinter wo Nassschnee wenig oder gar keine Rolle spielt. Kaum bis kein tageszeitlicher Anstieg der Gefahr. Vor allem hochalpin schattseitig meist noch sehr guter Pulverschnee.
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