Lüsens im Sellraintal ist bei Skitourengehern als eisiger Ausgangspunkt bekannt. Aber woher kommen die tieferen Temperaturen im Vergleich zu anderen Orten selber Seehöhe?
Von der Alm zur Ganzjahressiedlung und retour
Lüsens wurde wie viele andere, hochgelegene Siedlungen in den Alpen im 12. oder 13. Jahrhundert im Zuge des „hochmittelalterlichen Landesausbaus“ von einer Alm zu einem dauerhaft besiedelten Hof umgewandelt. Jährlich mussten die Bewirtschafter somit tierische Produkte an das Stift Wilten abliefern – als Gegenzug durften sie den Hof bewohnen und bewirtschaften.
Im Jahre 1305 wurde Lüsens somit erstmals als Schwaighof erwähnt. Aber bereits um das Jahr 1400 wurde die ganzjährige Siedlung wieder zur Alm zurückgewidmet. Die Bewirtschaftung wurde trotz der wunderschönen, ebenen Feldflächen wieder aufgegeben. Der Grund war das Einsetzen der Kleinen Eiszeit.
Warum wurde aber gerade der Schwaighof in Lüsens wieder aufgegeben und nicht die noch höher gelegenen Höfe von Haggen oder Praxmar?
Mehr zur Siedlungsgeschichte des inneren Sellraintales gibt es übrigens in dieser 80-seitigen Abhandlung von 1925.
Lüsens – Der Sellraintaler Gefrierschrank
Im Früh- und Hochwinter liegen die Temperaturen morgens in Lüsens immer um 5°C bis 7°C tiefer als bei mir zuhause. Lüsens ist aber mit 1630 m nicht einmal 100 Meter Höhe als mein Wohnort. Demnach dürfte es dort nur maximal um 1°C kälter sein. Ähnliches erlebt man oft auch in den anderen Jahreszeiten, wenn auch nicht in dieser starken Ausprägung.
Die Ursache liegt in zwei natürlichen Gegebenheiten: Zum einen liegen hinter Lüsens die beiden höchstgelegenen Talenden des Sellraintales. Der Lüsener Ferner mit seinem 3,5 km² großen Gletscherbecken dessen Flächen auf durchschnittlich 3000 m liegen – sowie das obere Längental mit dem Längentalferner. Beide Bereiche liegen gemittelt deutlich höher als das hintere Gleirschtal oder das hintere Kraspestal. Dort werden zwar annähernd die selben Höhen erreicht, aber nicht auf einer so großen Fläche. Nur die höchsten Bergspitzen und damit nur ganz kleine Bereiche ragen über 3000 m hinauf – während im hinteren Lüsenstal hunderte von Hektar so weit oben liegen.
Das Gegenteil von Thermik – Katabatische Fallwinde
Am Berg kühlen die Luftmassen vor allem nachts und bei schwacher Sonneneinstrahlung verhältnismäßig stärker aus als im Tal. Dadurch bilden sich rund um den Lüsener Fernerkogel gewaltige Volumina ausgesprochen kalter Luft. Kalte Luft ist aber deutlich „schwerer“ (eigentlich dichter) als warme Luft und sinkt dadurch nach unten. Vom Lüsener Ferner und vom hinteren Längental hinunter passt das Gelände perfekt um die Luft ausfließen zu lassen. Der Prozess ist sozusagen das Gegenteil von Thermik, bei der erwärmte Luftmassen aufsteigen.
Dieses „Hinunterfließen“ merkt man vor allem im Winter wenn der kalte Wind in der Mauer am Anstieg zum Fernerkogel oder im Längental unterhalb des Westfalenhauses einem die Nase abfrieren lässt.
Die Geländeform
Dazu kommt die spezielle Form des Geländes in Lüsens. Direkt um den Alpengasthof befindet sich im Talboden die etwa 15 Hektar große, ebene Weidefläche. Talauswärts, am Ende der Felder, verengt sich das Tal und wird links und rechts stark eingekesselt, während nur ein schmaler Graben rund um die Melach übrig bleibt.
Der Kaltluftsee
Dadurch können die kalten Luftmassen zwar problemlos bis nach Lüsens vordringen, bleiben dort aber liegen beziehungsweise können nur unzureichend weiter abfließen. Man kann sich das Ganze wie einen Teich vorstellen – mit einem kleinen, engen Ausfluss am unteren Ende. Von hinten strömt ständig sehr kalte Luft nach, aber kommt am Auslass nicht gleich schnell weiter talauswärts.
Das sind die beiden Gründe warum es in Lüsens regelmäßig um 5°C oder noch kälter als in St. Sigmund, Praxmar oder Haggen ist – obwohl ähnlich hoch gelegen.
Der Gefrierschrank früher und heute
Siedlungen in einer Höhenlage von 1600 Metern waren seit jeher an der Grenze des Überlebens in unserer Klimazone. Ist es aber um einige Grad kälter als üblich in derselben Höhenlage und das Klima kühlt sich noch dazu – wie im Spätmittelalter – um einige Grad ab, war an ein Überleben nicht mehr zu denken. Siehe dazu Infos zur Kleinen Eiszeit.
Heute merken wir den Gefrierschrank Lüsens hauptsächlich an den auffälligen Morgentemperaturen bei Skitouren im Winter. Die Goldregel „Aufgefellt wird zuhause im Keller und niemals am Parkplatz“ zeigt hier ihren Hintergrund noch mehr als sonst. Wer nicht hören will, muss dann oft fühlen: Entweder über klamme Hände und Zehen am Parkplatz oder über ein Steigfell das sich nach wenigen hundert Höhenmetern abzulösen beginnt.
Leider gibt es in Lüsens keine Messstation. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass die Morgentemperaturen dort häufig gleichauf mit den für ihre Tiefsttemperaturen bekannten Stationen St. Jakob im Defereggen und Seefeld liegen. Die beiden Stationen stehen ebenfalls in Kaltluftseen. Wenn es in Lüsens nicht sogar hin und wieder noch kälter ist…
Danke, Lukas, für diesen aufschlussreichen Artikel. Das mit den katabatischen Fallwinden war mir neu. Dass es in Lüsens in der Früh i.d.R. recht kalt ist, eher nicht… Den Link zum 80-seitigen Artikel werde ich gleich mal klicken. Liebe Grüße aus dem bay. Oberland!